Die Stadt als Leinwand
Ein „kleines“ Mädchen, vielleicht zehn oder zwölf Meter groß. Es hat Zöpfe, trägt einen bunt gestreiften Rock und hält eine Gießkanne hoch, um damit einen Baum zu gießen. Den Baum gibt es wirklich. Er steht am Rand einer kleinen Straße in der polnischen Großstadt Białystok – häufig zusammen mit Touristen, die für ein Selfie vorbeikommen, seit die polnische Künstlerin und Designerin Natalia Rak das Mural mit dem Mädchen 2013 an die Hausfassade gleich hinter dem Baum gemalt hat. „The Legend of the Giants“ heißt es. Das klingt nicht nur wie ein Märchen, es fühlt sich auch so an, wenn man das Wandbild anschaut. Denn wo vorher graue Langeweile war, ist wie durch Zauberhand ein magischer Ort entstanden.
Lebenszeichen in der Grauzone
Natalia Rak ist eine von vielen international bekannten Mural-Artists, die Leinwand und Kunstgalerie gegen Wände in Städten auf der ganzen Welt eingetauscht haben. Anders als die meisten Graffitis sind die bekanntesten Murals allerdings völlig legal. So gut wie alle entstehen in enger Kooperation mit Städten oder Gemeinden, die mittlerweile händeringend nach verfügbaren Flächen für die kreativen Ideen von lokal oder international bekannten Künstlern suchen.
Dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Murals sind gut für das Stadtmarketing. Schließlich sorgen sie international für Aufmerksamkeit und ziehen neben Touristen auch Kunstinteressierte an, die sich auf Mural-Festivals in Bristol, Berlin, Hongkong, New York oder Montreal mit Gleichgesinnten und Kennern der Szene austauschen. Viele Mural-Künstler werden deshalb gezielt gefördert, damit Städte ein hippes Image von sich promoten können.
Zum anderen verwandeln Murals selbst die trostlosesten Ecken einer Stadt in magische Orte, die Anwohner und Passanten gewollt oder ungewollt mit Kunst konfrontieren – mit Bildern, die irritieren, zum Nachdenken und Träumen einladen oder die einfach nur Freude bereiten, weil sie das Leben bunter machen.
Und noch etwas zeichnet Mural-Projekte auf der ganzen Welt oft aus: die aktive Beteiligung der Menschen bevor und während die Gemälde in ihrer Umgebung entstehen. Viele Künstler stehen Kindern beim Bemalen ihrer Schulwand mit Rat und Tat zu Seite, während andere mit Anwohnern Entwürfe ausarbeiten, die sie anschließend professionell umsetzen. Denn auch das ist ein Anliegen vieler Mural-Initiativen: den Zusammenhalt in der Community stärken und den Menschen vor Ort zeigen, dass sie die Welt mit ihren farbenfrohen Lebenszeichen ein kleines Stück besser machen und stolz auf sich sein können.
Lust auf Farbe für deine Fassade? Hier haben wir ein paar tolle Ideen:
Mural oder Murales – beide Begriffe stammen von „murus“, dem lateinischen Wort für Wand.
Die Ursprünge liegen in Mexiko
Mit diesem auf Emanzipation und Integration zielendenden Ansatz unterscheiden sich Murals deutlich von anderen Wandmalereien, die fast so alt wie die Menschheit sind. Die ältesten Wandmalereien aus Höhlen in Borneo und Indonesien sind über 40.000 Jahre alt und zeigen neben Jagdszenen immer wieder Abdrücke von Händen, die uns aus fernen Zeiten zuzuwinken scheinen. Das antike Rom ist für seine eingeritzten Graffitis bekannt, die das politische Leben ironisch bis derb kommentieren, während bei Ausgrabungen in Pompeji farbenprächtige Wandmalereien gefunden wurden, die den direkten Einfluss antiker Kunstwerke auf spätere Meister wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci aufzeigen.
Auch Murals entstammen dieser Tradition. Doch anders als ihre klassischen Vorläufer sind sie nicht in Villen, Palästen, Museen oder Kirchen zu finden, sondern inmitten der Menschen, an die sie sich wenden. Und diese Geschichte beginnt sehr viel später, genauer gesagt im Lauf der 1920 Jahre nach der Revolution in Mexiko.
Damals entstand unter dem Begriff „Muralismo“ in Mexiko-Stadt eine Kunstbewegung, die den öffentlichen Raum zur direkten Kommunikation mit der Bevölkerung nutzen wollte, von denen nur wenige schreiben und lesen konnten. Um den Menschen die Geschichte des Landes dennoch näherzubringen, beauftragte die Regierung Vertreter des Muralismo mit monumentalen Wandbildern an wichtigen öffentlichen Gebäuden. Vor allem von Diego Rivera, dem Ehemann der weltweit bekannten Künstlerin Frida Kahlo, entstanden daraufhin zahlreiche marxistisch motivierte „Murales“ (englisch: Murals), die Szenen der Landesgeschichte idealisieren und Arbeiter samt Bauern als Helden der Revolution darstellen. Die ersten Murals waren somit öffentliche Kunst im Dienst der Emanzipation – und der Propaganda.
Faszinierende Murals aus der ganzen Welt
Vom politischen Ausdrucksmittel zum Touristenmagnet
Schon bald eroberten die Murals von Mexiko aus auch andere Teile der Welt. Zunächst griffen vor allem Künstler aus konfliktreichen Regionen die Tradition auf. Mit ihren Wandmalereien bezogen sie Stellung und versuchten die Bevölkerung für ihr politisches oder soziales Anliegen zu gewinnen, etwa in Johannisburg gegen die Rassentrennung oder für die jeweils eigene Partei in den Straßen von Belfast während des Bürgerkriegs in Nordirland.
Doch zumindest in Europa begannen die Helden, Märtyrer und Kämpfer schon bald aus den Murals zu verschwinden. Spätestens in den 1980er Jahren haben die großen Wahrheiten auch in der Kunst ausgedient. An ihre Stelle rückten andere Motive: Wahrheiten, die keine mehr sein wollen, ironische Anmerkungen zur Lage der Welt oder kleine Absurditäten, die verblüffen, nachdenklich machen oder einfach nur lustig sind.
Neben Keith Haring oder Thierry Noir mit ihren Murals an der East Side Gallery entlang der Berliner Mauer steht für diese Wende vor allem der britische Streetart-Künstler Banksy, dessen Identität bis heute unbekannt ist. Banksy hat entscheidenden Anteil daran, dass Streetart nicht mehr vorwiegend als Sachbeschädigung angesehen wird, sondern als ästhetisches Erlebnis, das sich von klassischer Kunst eigentlich nur durch ihre Vergänglichkeit infolge von UV-Licht, saurem Regen oder dem Abriss von bemalten Häusern unterscheidet.
Banksys witzig bis skurril verfremdete Alltagsszenen auf Hauswänden erregen regelmäßig weltweite Aufmerksamkeit. Sie stoppen Hausverkäufe, weil die Eigentümer auf einen Wertzuwachs hoffen. Vor einigen Jahren sah sich der Stadtrat von Melbourne sogar zu einer kleinlauten Entschuldigung genötigt, nachdem Mitarbeiter der Stadtreinigung versehentlich ein Bild von ihm übermalt hatten. Viel wichtiger aber ist, dass Banksy mit seinen Arbeiten viele junge Mural-Artists inspirierte und Türen geöffnet hat für so große Talente wie beispielsweise Victor Ash, Michail Serebrjakow, JR, SEF, Millo, Herakut, Jadore Tong und viele andere.
Rolle, Pinsel, Sprühdose und Airbrush: die Werkzeuge für kreative Großtaten
Ursprünglich setzten Künstler für ihre Wandmalereien hauptsächlich auf die Fresko-Technik. Dabei werden Farbpigmente in Wasser eingeweicht und anschließend Schicht für Schicht auf feuchten Kalkputz aufgetragen. Die dadurch ausgelöste Carbonatisierung fixiert die Farbpigmente wischfest im Putz.
Heutige Mural-Künstler tragen nur noch selten Kalkputz auf. Sie arbeiten mit dem, was sie vorfinden: vorgestrichene Fassaden oder nackte Backstein- und Betonwände. Fresken gibt es nur noch vereinzelt. Stattdessen toben sie sich an den Hausfassaden auf Gerüsten stehend mit den Werkzeugen und Techniken aus, die sich in der Streetart-Szene bewährt haben.
Große Farbflächen und Schriftzüge werden mit Malerrollen an Teleskopstangen aufgetragen. Meistens kommt dabei Acrylfarbe zum Einsatz. Sprühfarben aus Dosen oder Airbrush sorgen für weiche Übergänge und alle denkbaren Schattierungen, die manche Künstler gezielt für fotorealistische Effekte nutzen. Highlights oder Motive, die an mehreren Stellen im Wandbild auftauchen sollen, lassen sich blitzschnell mit sogenannten Stencils aufbringen. Die vorgefertigten Schablonen werden einfach an die Wand gehalten oder dort fixiert und anschließend besprüht oder übermalt. Ist alles fertig, bekommen die meisten Murals zum Abschluss noch einen transparenten Firnis auf Acrylbasis, der das Gemälde vor UV-Strahlen und Witterungseinflüssen schützt.
Andere wollen auch ein Stück vom Kuchen
Natürlich arbeitet jeder Künstler anders. Die Werkzeuge und Arbeitsweisen sind ebenso vielfältig wie die Stilrichtungen der Murals, die von Kunst, Kitsch, Comics, Folklore, Memes und vielem mehr inspiriert sind. Das unterscheidet sie auch von Graffitis, die meist rätselhafte Zeichen der Selbstbehauptung sind.
Im Gegensatz dazu drehen sich Murals nicht um sich selbst. Sie schmücken Orte, erzählen Geschichten und verwickeln Betrachter in einen Dialog, dem sich niemand entziehen kann. Von dieser starken Wirkung wollen auch andere profitieren. In vielen Städten machen inzwischen kleinere Geschäfte, Cafés oder Restaurants mit Murals auf sich aufmerksam. Selbst große Unternehmen nutzen die Macht der riesigen Bilder und werben mit ihnen zum Beispiel auf der eigenen Fassade für teure Eigentumswohnungen.
Sind Murals also Mainstream, stehen sie kurz vor dem Ausverkauf? Vielleicht. Andererseits sind sie immer noch die Ausnahme. Die vorherrschenden Farben während eines Spaziergangs in einer Durchschnittsstadt changieren zwischen Braun und Grau. Wie schön ist es, plötzlich unerwartet einen großen Farbtupfer zu sehen, an dem man sich erfreuen kann.